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Über den Umgang der Mobilfunkindustrie mit der Wissenschaft am Beispiel der NTP-Studie

von Prof. Dr.med. Franz Adlkofer
Pandora-Stiftung für unabhängige Forschung

http://stiftung-pandora.eu
Publiziert bei Gigaherz.ch am 24.9.2018

Die Entwicklung der Mobilfunktechnologie von 1G bis 5G ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Möglich wurde sie nur, weil die für die Technik zuständigen Experten der Mobilfunkindustrie davon ausgingen, dass die Hochfrequenzstrahlung und ihre Modulationen – vergleichbar dem sichtbaren Licht – biologisch unschädlich sind. Sie vertrauten auf die Grenzwerte, die vor den system­immanenten akuten thermischen Wirkungen der Strahlung schützen und so die Erhitzung organischen Gewebes zuverlässig verhindern. Biologische Wirkungen unterhalb der Grenzwerte wurden kategorisch ausgeschlossen, weil deren Existenz angeblich den Gesetzen der Physik wider­spricht. Unter dieser Voraussetzung war der technischen Nutzung der Hochfrequenzstrahlung im Mobilfunkbereich kaum noch Grenzen gesetzt. Zweifel an der Harmlosigkeit der Hochfrequenz-strahlung, die so alt sind wie die Strahlentechnik selbst, begegnete die Mobilfunkindustrie auf ihre Weise. Willfährige Wissenschaftler, bei denen es weniger auf die Qualifikation als auf die richtige Meinung ankam, wurden großzügig gefördert und über ihre Beziehungen zur Politik in den nationalen und internationalen Beratungs- und Entscheidungsgremien untergebracht.

Ein Meilenstein bei der Durchsetzung ihrer Interessen war 1992 die Gründung der Internationalen Kommission zum Schutze vor nicht-ionisierenden Strahlen (ICNIRP). Dabei handelt es sich um eine private Nichtregierungsorganisation (NGO), der Dr. Michael Repacholi kraft seiner Position als Leiter des EMF-Projektes der WHO die offizielle Anerkennung der WHO und der EU sowie einer Reihe ihrer Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, verschaffte. Repacholi, erster Vorsitzender und später Ehrenvorsitzender der ICNIRP, schied nach Korruptions­vorwürfen 2006 aus der WHO aus und wechselte als Berater zu einem amerikanischen Stromversorger. Die ICNIRP wurde als zuständig für die Festlegung der Grenzwerte für die nicht-ionisierende Strahlung, also auch für die Hochfrequenz-strahlung erklärt. Ihre Entscheidungen sind von größter Bedeutung für die ökonomischen und strategischen Planungen der Mobilfunkindustrie. Um sicher zu stellen, dass die ICNIRP von der Harmlosigkeit der Hochfrequenzstrahlung auf Dauer überzeugt bleibt, wird die Nachfolge eines ausscheidenden Mitglieds von den verbleibenden Mitgliedern, von deren enger Beziehung zur Mobilfunkindustrie ausgegangen werden darf, geregelt. Damit trägt die ICNIRP wesentlich dazu bei, dass das Primat der technischen Forschung, das der Mobilfunk­industrie niemand streitig macht, durch das Primat der biologischen Forschung, das ihr nicht zusteht, ergänzt wird.

Wer gegen wen?
Im Folgenden wird der gegenwärtige Stand der Auseinandersetzung zwischen der Mobilfunkindustrie und der unabhängigen Wissenschaft anhand eines Beispiels aufgezeigt. Die Mobilfunkindustrie wird dabei durch ICNIRP vertreten, die unabhängige Wissenschaft durch das Nationale Forschungs­programm (NTP) der USA. Die NTP hat gerade das größte bisher durchgeführte Tierexperiment abgeschlossen und dabei nachgewiesen, dass die Mobilfunkstrahlung über ein krebserzeugendes Potenzial verfügt. Die ICNIRP ist der Meinung, dass die Ergebnisse der NTP-Studie nicht überzeugen können und dass zur Abklärung weitere Studien erforderlich sind.

Zusammenfassung der Ergebnisse der NTP-Studie
Im IEEE Microwave Magazin erschien jüngst ein Bericht von James C. Lin mit dem Titel „Clear Evidence of Cell-Phone RF Radiation Cancer Risk [Eindeutiger Beweis für das Krebsrisiko durch die Mobilfunkstrahlung]“  (1). Lin ist Professor emeritus für Elektrotechnik, Biotechnik, Physiologie und Biophysik an der University of Illinois, USA. Von 2004 bis 2016 war er Mitglied der ICNIRP, von 2008 bis 2012 Vorsitzender des ständigen Ausschusses für Physik und Technik. Zusammen mit 13 weiteren Wissenschaftlern, zwei Elektrotechnikern, zehn Pathologen/Toxikologen und einem Biostatistiker, keiner davon im Dienste der Mobilfunkindustrie, war er vom National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) und vom National Toxicology Program (NTP) der USA, eingeladen worden, in einer Arbeitsgruppe mitzuwirken, die die bis jetzt vorliegenden Berichte der NTP zur Frage der Krebsentstehung durch die Mobilfunkstrahlung einer kritischen Überprüfung unterziehen sollte. In diesen Berichten war u.a. festgestellt worden, dass die lebenslange Exposition von männlichen Ratten bösartige Tumore verursachen kann. Die jeweilige Beweislage war von der NTP nach fünf Kriterien bestimmt worden: Für positive Ergebnisse „clear evidence“ [eindeutiger Beweis] sowie „some evidence“ [einige Beweise]; für unsichere Ergebnisse „equivocal evidence“ [nicht eindeutiger Beweis]; wenn keine Wirkung feststellbar war, hieß es „no evidence“ und bei Ergebnissen, die wegen experimenteller Fehler keine Bewertung zuließen, „inadequate study“. Dieses Bewertungsschema wurde von der Arbeitsgruppe übernommen. Es wurde festgestellt:

  1. Die Pathologen und Toxikologen der Gruppe kamen zu der Erkenntnis, dass der statistisch signifi­kante und damit eindeutige Beweis (clear evidence) dafür vorliegt, dass sowohl die GSM- als auch die CDMA-modulierte Hochfrequenzstrahlung die Entwicklung bösartiger Schwannome, eine seltene Krebsart, in den Herzen der männlichen Ratten verursacht hat. Bei weiblichen Ratten war das Schwannom-Risiko nicht eindeutig nachzuweisen (equivocal evidence). Zusätzlich zur Krebsentstehung wurde festgestellt, dass bei den RF-exponierten männlichen und weiblichen Ratten ungewöhnliche Formen von Kardiomyopathien, also Schäden im Herzgewebe, aufgetreten waren.
  2. Die Wissenschaftler gelangten auf der Grundlage der statistischen Signifikanz ferner zu der Erkenntnis, dass die pathologischen Befunde im Gehirn männlicher Ratten mit eingeschränkter Beweiskraft (some evidence) auch auf Hochfrequenz-bedingte kanzerogene Wirkungen, spezifisch Gliome, hin­weisen. Bei weiblichen Ratten wurde aufgrund der Befunde die Beweislage bezüglich der Ent­stehung bösartiger Gliome als zweideutig (equivocal evidence) angesehen.
  3. Zusätzlich waren sich die Wissenschaftler einig, dass ein limitierter Beweis (some evidence) auch für eine erhöhte Kanzerogenität im Bereich der Nebennieren vorliegt. Bei den männlichen Ratten war die Anzahl von Phäochromozytomen im Vergleich zu den nicht bestrahlten Kontrollen signifikant erhöht. Bei den weiblichen Ratten wurden in den Nebennieren im Ver­gleich zu den nicht bestrahlten Kontrollen signifikant erhöhte tumorähnliche Hyperplasien beobachtet.
  4. Da die mit der Überprüfung der Ergebnisse der NTP-Studie beauftragten Wissenschaftler die kanzerogene Wirkung der Langzeit-Hochfrequenz-Exposition bei Ratten als definitiv bewiesen ansehen, können sie sich vorstellen, dass die IARC ihre ausschließlich auf der Grundlage der Ergebnisse epidemiologischer Studien beruhende Einstufung der Hochfrequenzstrahlung als „möglicher­weise karzinogen beim Menschen“ mit „wahrscheinlich karzinogen beim Menschen“ der Realität anpassen möchte.
  5. Während bezogen auf die Richtlinien für Kurzzeitexpositionen in voreingenommener Weise angenommen wird, dass sie sicheren Schutz vor den Strahlenwirkungen gewähren, bleibt die ent­scheidende Frage völlig offen, ob diese Richtlinien auch geeignet sind, um sicheren Schutz bei Langzeitexpositionen mit SAR-Werten von oder unter 1,6 bzw. 2 ,0 W/kg zu bieten. Vielleicht ist doch die Zeit gekommen, um diese Richtlinien mit Vernunft zu überprüfen, zu überarbeiten und der Realität anzupassen.
  6. Die Wissenschaftler halten es für wichtig, dass sich die US-Regierung dieser Forschung auch in Zukunft zuwendet und eigene Forschungsprogramme auflegt und das Thema nicht völlig der Mobil­funkindustrie überlässt. Diese Industrie hatte bisher nahezu freies Feld, um Mobiltelefone und die dazu gehörigen Ausrüstungen zu entwickeln und zu verbreiten, wie es ihr passte. Der Abschluss der NTP-Studie sollte nicht das Ende der Förderung der Erforschung biologischer Wirkungen der Hochfrequenzstrahlung durch die US-Regierung besiegeln, zumal damit fort­gefahren wird, die Menschen dieser Strahlung jeden Tag ein bisschen mehr auszusetzen.

Daran, dass die Neubewertung der Ergebnisse der NTP-Studie durch die einberufene Arbeitsgruppe wissenschaft­lichen Kriterien genügt, kann kein Zweifel mehr bestehen. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch belegt, dass den für die NTP-Studie verantwortlichen Forschern zahlreiche Fehler und sonstige Unzulänglich­keiten vorgehalten werden, die bei besserer Planung und Umsetzung hätten vermieden werden können. Diese Fehler und Unterlassungen reichen jedoch bei weitem nicht aus, um das wichtigste Ergebnis der NTP-Studie, den Nachweis der kanzerogenen Wirkung der Mobilfunk-strahlung, irgendwie in Frage zu stellen.

Stellungnahme der ICNIRP zur NTP-Studie
In ihrer „Note on recent animal carcinogenesis studies“ [Anmerkung zu neuen Krebs-Studien an Tieren] (2) vom 4. September 2018 zieht die ICNIRP folgendes Fazit:
Obwohl die NTP-Studie (und eine weitere Studie aus Italien, in das kanzerogene Potenzial der Mobilfunkstrahlung bestätigt wurde) große Tierzahlen und beste Laborpraxis nutzten und die Tiere während ihrer gesamten Lebenszeit der Hochfrequenzstrahlung ausgesetzt waren, liefern ihre Befunde keine Beweise dafür, dass die Hochfrequenzstrahlung Krebs verursacht. NTP berichtet, dass die auffälligste Beobachtung der Anstieg bösartiger Schwannome in den Herzen männ­licher Ratten war. Dies ist jedoch nicht konsistent mit den Ergebnissen der italienischen Studie, nicht konsistent mit den Ergebnissen bei weiblichen Ratten sowie männlichen und weiblichem Mäusen in der NTP-Studie und nicht konsistent mit der Literatur zur Krebsentstehung durch hochfrequente EMF im Allgemeinen. Während epidemiologische Studien darauf hindeuten, dass vestibuläre Schwannome ein Ergebnis von Interesse sind, trifft dies nicht zu für bösartige kardiale Schwannome. In der NTP-Studie wird weder ein Anstieg der Schwannome insgesamt noch im Vestibularbereich beobachtet. Da in der NTP-Studie außerdem keine Mehrfachvergleiche durchgeführt wurden, gibt es keinen Hinweis darauf, dass das erhöhte Vorkommen bösartiger kardialer Schwannome bei den männlichen Ratten höher war als was man allein durch Zufall erwarten würde. ICNIRP ist der Ansicht, dass die NTP-Studie keinen konsistenten, verlässlichen und allgemeingültigen Beweis liefert, der als Grundlage für eine Revision der geltenden Expositionsrichtlinien verwendet werden kann. Weitere Forschung, die sich mit den oben genannten Einschränkungen befasst, ist erforderlich. (2)

Das Säen von Zweifel ist ihr Geschäft
Aus der NTP-Studie ergibt sich, dass die von der ICNIRP vorgegeben Grenzwerte nicht in der Lage sind, den ihnen zugedachten Zweck, nämlich den Schutz der Bevölkerung vor den Wirkungen der Mobilfunkstrahlung, zu gewährleisten, und dass für die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) der WHO die Zeit gekommen sein sollte, die Klassifizierung der Hochfrequenzstrahlung von „möglicherweise karzinogen für Menschen“ (2B) mit „wahrscheinlich karzinogen für Menschen“ (2A) der Realität anzupassen. Um diese Erkenntnisse, die das gegenwärtige Geschäftsmodell der Mobilfunkindustrie bedrohen, als zweifelhaft erscheinen zu lassen, ist die ICNIRP offensichtlich zu jedem Verrat an der Wissenschaft bereit. Wenn es dafür noch eines Beweises (clear evidence) bedurft hätte, dass es sich bei ihr um eine PR-Organisation der Mobilfunkindustrie handelt, mit ihrem Bericht „ICNIRP Note on recent animal carcinogenesis studies“ vom 4. September 2018 hat sie ihn endgültig erbracht  (2).
In diesem Bericht behauptet die ICNIRP, dass die NTP-Studie keine verlässliche Grundlage für die Revision der bestehenden Expositionsrichtlinien gegenüber der Hochfrequenzstrahlung darstellt. Da sie grundsätzlich davon ausgeht, dass bei den Richtlinien nur die akuten thermischen Wirkungen der Hochfrequenzstrahlung berücksichtigt werden müssen, weil es andere Wirkungen gar nicht gibt, ist diese Aussage zunächst nicht ohne Logik. Unhaltbar wird diese jedoch, wenn zutrifft, dass die Hochfrequenzstrahlung ihre schädliche Wirkung auch bei Einhaltung der Grenzwerte entfaltet, dies allerdings nur dann, wenn die Exposition lang genug anhält. Dafür hat die NTP-Studie, übrigens nur  als eine von vielen, wenn auch als die bisher aufwendigste, und wohl auch überzeugendste, den Beweis (clear evidence) erbracht (3). Wie immer in solchen Fällen, lautet die geradezu roboterhafte Antwort der ICNRP, dass noch zu viele Fragen offen sind, bevor die Kausalität des Zusammenhangs anerkannt werden kann.

Die ICNIRP fordert die perfekte Studie. Die Tatsache, dass es eine solche Studie aus Gründen, die in der Natur der biologischen Forschung liegen, gar nicht geben kann, ist ihren Mitgliedern offen­sicht­lich nicht zu vermitteln. Damit belegen sie entweder die eigene Inkompetenz, was ihre Qualifikation als Wissenschaftler angeht, oder, was viel wahrscheinlicher ist, ihre Absicht, der Mobilfunkindustrie aus einer Verlegenheit zu helfen. Wie es aussieht, wird die ICNIRP von der Mobilfunkindustrie wieder einmal zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzt, diesmal mit einer Methode, die sie von der Zigaretten­industrie übernommen hat. Der Zigarettenindustrie ist es mit dem Säen von Zweifel gelungen, die Menschheit über Jahrzehnte hinweg um die längst gesicherte Erkenntnis zu bringen, dass Rauchen die Ursache für Lungenkrebs ist. Die Mobilfunkindustrie verfolgt bei einer durchaus vergleichbaren Sachlage dieselbe Taktik, dies sogar unter noch besseren Voraussetzungen: Die Abhängigkeit der Menschen von den Produkten der Zigarettenindustrie und Mobilfunkindustrie mag vergleichbar sein, doch die Anzahl der Abhängigen von den Produkten der Mobilfunkindustrie ist ungleich größer.

(1)
https://ieeexplore.ieee.org/document/8425056/
(2)
www.icnirp.org/cms/upload/publications/ICNIRPnote2018.pdf
(3)
http://stiftung-pandora.eu/wp-content/downloads/dariusz_ntp-studie_160902.pdf

Von Hans-U. Jakob

 

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